migration

Seit 2004 leitet das Waldrappteam junge, von menschlichen Bezugspersonen aufgezogene Waldrappe mittels Ultraleicht-Fluggeräten von Brutgebieten nördlich der Alpen in das WWF-Schutzgebiet Laguna di Orbetello in der südlichen Toskana, um sie dort auszuwildern.
Diese Methode, die gegenwärtig nur vom Waldrappteam durchgeführt wird, konnten wir in den letzten 20 Jahren optimieren. Die täglichen Flugetappen hatten anfänglich eine Länge von ca. 60 Kilometern, inzwischen fliegen wir bis zu 300 Kilometer am Tag. Die Anzahl der pro Saison ausgewilderten Vögel konnten wir verdreifachen auf inzwischen bis zu 35 Vögel. Die Optimierungen wurde insbesondere durch Optimierung der Aufzucht, Anpassungen der Fluggeräte und begleitende Forschung zur Flugtechnik und Flugeffizienz der Waldrappe möglich. Maßgeblich dazu beigetragen hat die Expertise des Profipiloten Walter Holzmüller , der seit 2007 an den Migrationen teilnimmt.

Prägung

Die Küken werden im Alter von wenigen Tagen aus Nestern in Zookolo­nien entnommen. Ein Großteil kam bislang aus der Kolonie des Tierpark Rosegg in Kärnten (A), aber auch verschiedenen anderen Zoos in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Tschechien stellen Küken zur Verfügung.

Die Küken kommen in die Obhut von zwei menschlichen Bezugspersonen. Nur diese Zieheltern haben Kontakt zu den Vögeln und verbringen den ganzen Tag mit ihnen. So erfolgt die Elternprägung in den ersten zwei Lebenswochen ganz spezifisch auf diese beiden Personen.

Wir praktizieren eine sogenannte sozial involvierte Handaufzucht (socially involved handraising). Dies bedeutet, dass die Bezugspersonen direkt und intensiv mit den Vögeln interagieren. Sie tragen keine Maske und verwenden keine Attrappen. Lediglich eine gelbe Oberkleidung soll den Vögeln beim späteren Training das Erkennen der Bezugspersonen aus Distanz erleichtern.

Diese Elternprägung führt zu einer sozialen Bindung, die durch dauernde Anwesenheit der beiden Bezugspersonen, die tägliche Betreuung und intensive soziale Interaktionen mit jedem einzelnen Vogel weiter stabili­siert und intensiviert wird. Ein starkes „soziale Band“ ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Vögel später den Zieheltern in den Fluggeräten über hunderte Kilometer zuverlässig folgen.

Der ausschließliche Kontakt zu den beiden Bezugspersonen gewährleistet, dass die Vögel nach der Auswilderung keine generelle Affinität zu Menschen zeigen. Sie können Menschen sehr gut unterscheiden und noch nach Jahren ihre Zieheltern erkennen.

 

Flugtraining

Mit Ende Mai, im Alter von etwa sechs bis sieben Wochen, werden die Waldrappe flügge. Mit Anfang Juni beginnt das Flugtraining. Dafür ist das Camp immer am Rande einer geeigneten Start- und Landepiste aufgerichtet.

Dank der intensiven Bindung zu ihren Bezugspersonen können die Jungvögel langsam an das Fluggerät, den Motorlärm und den großen Paraschirm gewöhnt werden. Anfang fährt das Fluggerät nur am Boden, ohne Schirm. Erst wenn die Vögel dem Gerät folgen, kommt der Schirm zum Einsatz. Die Flüge erfolgen auf gemähte Wiesen in einem immer größeren Radius um das Camp. 

Das Training erfolgt mit einem Fluggerät. Die beiden Piloten, J Fritz und W Holzmüller, wechseln sich ab und auch die beiden Bezugspersonen fliegen abwechseln als KopilotInnen mit. Ab Mitte Juli finden ausgedehnte Trainingsflüge mit 70 km und mehr Flugstrecke statt. Erst bei den letzten Trainingsflügen gegen Ende Juli kommt ein zweites identes Fluggerät zum Einsatz. So können beide Zieheltern mitfliegen. Das erhöht die Motivation der Vögel. Zudem führt der Formationsflug beider Fluggeräte bei den Vögeln zu einem stabileren Flugverhalten.

 

Die Fluggeräte

Seit 2007 fliegen wir mit zwei baugleichen Fluggeräten Xcitor der Firma Fresh Breeze . Dieses Ultraleichtflieger der Kategorie Paraplane sind doppelsitzig mit kraftvoller Motorisierung und damit für das Projekt gut geeignete. Geflogen wird mit dem Paraschirm Bigmax der Firma Nova. Er hat eine ausgelegte Fläche von 60 m². Diese extreme Größe ermöglicht eine Fluggeschwindigkeit von maximal 46 km/h, was genau auf die Fluggeschwindigkeit der Waldrappe abgestimmt ist.

Zusätzlich sind die Fluggerät mit einem Zusatztank ausgestattet, dadurch sind Flüge mit bis zu fünf Stunden Dauer möglich. Eine weitere Sonderausstattung ist der vollvernetzte Propellerkäfig, der ein Touchieren der Propeller durch die Vögel weitgehend verhindert.

 

Migration

Anfang August kommen die wildlebenden Waldrappe in Zugbereitschaft und verlassen die Brutgebiete. Damit ist auch für die handaufgezogenen Jungvögel die Zeit zum Start der menschengeführten Migration gekommen.

Die menschengeleitete Migration startet im Trainingscamp. Geflogen wird in Tagesetappen von 100-300 Kilometer, abhängig von den Wetterbedingungen und den geografischen Barrieren. Die aktive Fluggeschwindigkeit der Vögel und der Fluggeräte liegt bei 40-45 km/h. Durch Rückenwind kann sich die Reisegeschwindigkeit auf über 100 km/h steigern, allerdings kann Gegenwind die Reisegeschwindigkeit auch minimieren oder auch ein Vorwärtskommen verunmöglichen.

Die Flugformation, bestehend aus den beiden Fluggeräten und den Vögeln, wird von einem Bodenteam begleitet. Dieses besteht in der Regel aus 8-10 Personen mit unterschiedlichen Aufgaben. Zumindest ein Fahrzeug begleitet die Formation und hält über Funk Kontakt. Das restliche Team baut nach dem Start das jeweilige Camp ab, einschließlich einer 9*12 Meter großen Voliere, und fährt dann zum Ort, an dem die Flugformation inzwischen gelandet ist. In der Regel ist das ein kleiner Flugplatze. Dort werden das Camp und die Voliere wieder aufgebaut.

Auf einen Flugtag folgt ein Pausentag. Wetterbedingt kann sich der Zwischenaufenthalt auch verlängern. Die Vögel bleiben in der Zeit in der Voliere und werden von den Zieheltern intensiv betreut.

Für die Flugstrecke von rund 800 Kilometer in das Wintergebiet in der Toskana werden etwa 5-7 Flugetappen benötigt. 2023 soll die Migration aber von Baden-Württemberg im nördlichen Alpenvorland in ein Überwinterungsgebiet in Andalusien (ESP) führen. Dafür ist eine Migration über mehr als 2.000 Kilometer erforderlich, annähernd dreimal so weit wie die bisherige Strecke in die Toskana.

Das geplante zweite Wintergebiet liegt im Areal einer in Andalusien angesiedelten, sesshaften Waldrapp-Population, die im Rahmen des Partnerprojektes Proyecto Eremita angesiedelt wurde. 

 

Auswilderung

Nach der Ankunft im Wintergebiet werden die Jungvögel für einige Wochen in einer Voliere gehalten. Dort werden sie von der intensiven Betreuung durch die Zieheltern entwöhnt und können sich an das neue Umfeld gewöhnen. Dann findet die Auswilderung statt. Zuvor werden die Jungvögel in der Regel mit GPS-Sendern ausgestattet. Die freifliegenden Vögel suchen in der Regel rasch den Kontakt zu den wilden Artgenossen und fügen sich in die Kolonie überwinternder Vögel ein.

Bereits im darauffolgenden Frühjahr unternehmen die noch nicht geschlechtsreifen Vögel erste Ausflüge Richtung Norden. Einzelne Jungvögel können sogar bis in das Brutgebiet fliegen. Spätestens mit Erlangen der Geschlechtsreife im dritten Jahr kehren die ausgewilderten Vögel im Frühjahr in ihre Brutgebiete zurück, um dort zu brüten. Die aufwachsenden Jungvögel folgen dann ohne weitere menschliche Einwirkung im Herbst ihren zugerfahrenen Artgenossen. So entsteht eine neue Zugtradition.