migration

Seit 2004 leitet das Waldrappteam juvenile, von menschlichen Bezugspersonen aufgezogene Waldrappe mithilfe von Ultraleichtfluggeräten von den Brutgebieten nördlich der Alpen in geeignete Wintergebiete. Neben der Migrationsroute zum ursprünglichen Wintergebiet in der Laguna di Orbetello in Italien wird seit 2023 eine zweite Route etabliert, die zum Wintergebiet in Vejer de la Frontera führt.

Diese Methode, die derzeit ausschließlich vom Waldrappteam angewendet wird, konnte in den letzten 20 Jahren kontinuierlich optimiert werden. Die täglichen Flugetappen lagen anfangs bei etwa 60 Kilometern; inzwischen erreichen die Vögel bis zu 300 Kilometer pro Tag. Die Anzahl der pro Saison ausgewilderten Vögel konnte von ursprünglich wenigen Exemplaren auf bis zu 36 verdreifacht werden.

Die Optimierungen wurden insbesondere durch die Weiterentwicklung der Aufzuchtmethoden, Anpassungen der Fluggeräte sowie begleitende Forschung zu Flugtechnik und Flugeffizienz der Waldrappe möglich. Einen maßgeblichen Beitrag leistete dabei die Expertise des Profipiloten Walter Holzmüller, der 2007 zum Projekt stieß.

Prägung

Die Küken werden im Alter von wenigen Tagen aus Nestern in Zookolo­nien entnommen. Ein Großteil kam bislang aus der Kolonie des Tierpark Rosegg in Kärnten (A), aber auch verschiedenen anderen Zoos in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Tschechien stellen Küken zur Verfügung.

Die Küken kommen in die Obhut von zwei menschlichen Bezugspersonen. Nur diese Zieheltern haben Kontakt zu den Vögeln und verbringen den ganzen Tag mit ihnen. So erfolgt die Elternprägung in den ersten zwei Lebenswochen ganz spezifisch auf diese beiden Personen.

Wir praktizieren eine sogenannte sozial involvierte Handaufzucht (socially involved handraising). Dies bedeutet, dass die Bezugspersonen direkt und intensiv mit den Vögeln interagieren. Sie tragen keine Maske und verwenden keine Attrappen. Lediglich eine gelbe Oberkleidung soll den Vögeln beim späteren Training das Erkennen der Bezugspersonen aus Distanz erleichtern.

Diese Elternprägung führt zu einer sozialen Bindung, die durch dauernde Anwesenheit der beiden Bezugspersonen, die tägliche Betreuung und intensive soziale Interaktionen mit jedem einzelnen Vogel weiter stabili­siert und intensiviert wird. Ein starkes „soziale Band“ ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Vögel später den Zieheltern in den Fluggeräten über hunderte Kilometer zuverlässig folgen.

Der ausschließliche Kontakt zu den beiden Bezugspersonen gewährleistet, dass die Vögel nach der Auswilderung keine generelle Affinität zu Menschen zeigen. Sie können Menschen sehr gut unterscheiden und noch nach Jahren ihre Zieheltern erkennen.

Flugtraining

Mit Ende Mai, im Alter von etwa sechs bis sieben Wochen, werden die Waldrappe flügge. Anfang Juni beginnt das Flugtraining. Das speziell dafür eingerichtete Trainingscamp wird stets am Rand einer geeigneten Start- und Landepiste aufgebaut.

Dank der intensiven Bindung zu ihren Bezugspersonen können die juvenilen Vögel langsam an das Fluggerät, den Motorlärm und den großen Paraschirm gewöhnt werden. Zunächst fährt das Fluggerät nur am Boden, ohne Schirm. Erst wenn die Vögel dem Gerät zuverlässig folgen, kommt der Schirm zum Einsatz. Die Flüge finden auf gemähten Wiesen statt und erstrecken sich nach und nach über einen immer größeren Radius um das Camp.

Ab Mitte Juli erfolgen ausgedehnte Trainingsflüge mit Strecken von 70 km und mehr. Das Fluggerät wird vom Piloten Johannes Fritz gesteuert, hinter ihm nimmt eine der beiden Zieheltern Platz. Nur aufgrund der Anwesenheit einer ihrer Bezugspersonen folgen die Vögel dem Fluggerät zuverlässig.

Die Fluggeräte

Seit 2007 kommen zwei baugleiche Ultraleichtfluggeräte „Xcitor“ der Firma Fresh Breeze zum Einsatz. Diese Paraplane der Kategorie Doppelsitz sind mit einem leistungsstarken Motor ausgestattet und ideal für das Projekt geeignet. Geflogen wird mit dem Paraschirm „Bigmax“ der Firma Nova, der eine Fläche von 60 m² aufweist. Diese große Fläche ermöglicht eine maximale Fluggeschwindigkeit von 46 km/h, exakt abgestimmt auf die Fluggeschwindigkeit der Waldrappe.

Zusätzlich sind die Fluggeräte mit einem Zusatztank ausgestattet, sodass Flüge von bis zu fünf Stunden möglich sind. Eine weitere Sonderausstattung ist der vollvernetzte Propellerkäfig, der ein Berühren der Propeller durch die Vögel weitgehend verhindert.

Migration

Anfang August kommen die wildlebenden Waldrappe in Zugbereitschaft und verlassen die Brutgebiete. Damit beginnt auch für die handaufgezogenen Jungvögel die Zeit für den Start der menschengeführten Migration.

Die menschengeführte Migration startet im Trainingscamp. Geflogen wird in Tagesetappen von bis 300 Kilometern, abhängig von Wetterbedingungen und geografischen Barrieren. Die aktive Fluggeschwindigkeit der Vögel und der Fluggeräte liegt bei 40–45 km/h. Rückenwind kann die Reisegeschwindigkeit auf über 100 km/h erhöhen, während Gegenwind das Vorankommen verlangsamen oder sogar unmöglich machen kann.

Die Flugformation, bestehend aus einem Fluggerät und den Vögeln, wird von einem Bodenteam begleitet. Dieses umfasst in der Regel bis zu 16 Personen mit unterschiedlichen Aufgaben. Mindestens ein Fahrzeug begleitet die Formation und hält über Funk Kontakt. Das restliche Team baut nach dem Start das aktuelle Camp ab, einschließlich der 9 × 12 Meter großen Voliere, und fährt anschließend zum Ort der nächsten Landung der Flugformation – in der Regel ein kleiner Flugplatz. Dort werden Camp und Voliere wieder aufgebaut.

Zwischen den Flugtagen gibt es immer wieder Pausentage, die wetterbedingt auch verlängert werden können. Währenddessen bleiben die Vögel in der Voliere und werden intensiv von ihren Zieheltern betreut.

 

Wintergebiete

Da das historische Migrationsziel der Waldrappe nicht überliefert ist, orientierte sich die Wahl der neuen Wintergebiete an deren Eignung. Von 2004 bis 2022 war das Ziel der menschengeführten Migration die WWF-Oase Laguna di Orbetello in der südlichen Toskana. Seit 2023 wird eine zweite Migrationsroute etabliert, die nach Südspanien zum Wintergebiet in Vejer de la Frontera führt. Diese neue Route, mit rund 2.600 km deutlich länger, wurde aufgrund des Klimawandels notwendig.

In Vejer de la Frontera werden im Rahmen des Wiederansiedlungsprojekts „Proyecto Eremita“ Waldrappe ausgewildert. Die daraus entstandene sedentäre Population umfasst inzwischen drei Kolonien in der Region mit rund 230 Vögeln. Die nach der menschengeführten Migration ausgewilderten Vögel schließen sich dieser Population bis zu ihrem ersten Rückflug in die Brutgebiete an, der meist im dritten Lebensjahr erfolgt

Auswilderung

Nach der Ankunft im Wintergebiet werden die Jungvögel für einige Wochen in einer Voliere gehalten. Dort werden sie von der intensiven Betreuung durch die Zieheltern entwöhnt und können sich an das neue Umfeld gewöhnen. Dann findet die Auswilderung statt. Zuvor werden die Jungvögel in der Regel mit GPS-Sendern ausgestattet. Die freifliegenden Vögel suchen in der Regel rasch den Kontakt zu den wilden Artgenossen und fügen sich in die Kolonie überwinternder Vögel ein.

Bereits im darauffolgenden Frühjahr unternehmen die noch nicht geschlechtsreifen Vögel erste Ausflüge Richtung Norden. Einzelne Jungvögel können sogar bis in das Brutgebiet fliegen. Spätestens mit Erlangen der Geschlechtsreife im dritten Jahr kehren die ausgewilderten Vögel im Frühjahr in ihre Brutgebiete zurück, um dort zu brüten. Die aufwachsenden Jungvögel folgen dann ohne weitere menschliche Einwirkung im Herbst ihren zugerfahrenen Artgenossen. So entsteht eine neue Zugtradition.